Erinnerungen an die Dürener Bluttat von 1945

Im Jahr 1945 machte eine unglaubliche Nachricht in Stockum und Düren die Runde: „Bauer Wilhelm Düren und fast alle Mitbewohner seines Hauses an der Dürener Straße 66 wurden in der Nacht erschossen!“ Das war am 26. Juni 1945. Wie konnte das geschehen, und wie konnte es damals zu dieser schrecklichen Tat kommen?

 
Der ehemalige Hof von Bauer Wilhelm Düren.                                                                      Wilhelm Düren 1902
                                                                   Foto: Archiv Heimatfreunde Stockum/Düren      Foto: Beate Gebard

Zur Vorgeschichte: Bereits am 10. April 1945 zogen die Amerikaner in Teile von Stockum ein. Am Abend zuvor lag der Ort zwischen 18.10 und 18.30 Uhr unter Trommelfeuer. Tote und erhebliche Schäden waren zu beklagen. Dann folgten relativ ruhige, aber nicht sorgenlose Wochen. Schwer drückte vor allem die Ungewissheit über die nicht heimgekehrten Männer. Noch immer gab es Bezugsscheine, und in den meisten Haushalten musste man mit weniger als 1000 Kalorien pro Kopf auskommen.

Auf den Bauernhöfen gab es mehr zu essen. Auch Landwirt Wilhelm Düren teilte mit den Notleidenden. Er war ein weit bekannter und beliebter Mann: Offizier im Ersten Weltkrieg, schwer verwundet, Junggeselle, Eigentümer eines etwa 250 Morgen großen Gutes. Sein tüchtiger Gutsverwalter war der vom Wehrdienst freigestellte 40-jährige Anton Wesseler. Dieser hatte bereits 1939 wegen hervorragender Leistungen in der Landwirtschaft einen Verdienstorden erhalten. Beide Männer gehörten nicht der NSDAP an. Auf dem Hof Wilhelm Düren waren auch während des Krieges zunächst Franzosen, dann Polen und Ukrainer beschäftigt.

Für die Besatzungsmächte waren die vielen ehemaligen Fremdarbeiter, D.P.‘s (displaced persons), ein schwieriges Problem. Sie brauchten Unterkunft und Verpflegung. In einem Lager in Dortmund am Westfalendamm befanden sich zeitweilig mehr als 25.000 Entheimatete. Insgesamt sollen es in den westlichen Besatzungszonen über fünf Millionen gewesen sein. Nicht alle wollten in ihre Heimat zurück. Auch in Witten zogen die D.P.‘s tagelang truppweise durch die Stadt. Sie plünderten, unter stillschweigender Billigung der Besatzung, Geschäfte, Wohnungen und vereinzelt auch Bauernhöfe. Anfangs mag es auch Hunger gewesen sein, der sie dazu trieb. Später waren es Raubzüge für den Schwarzmarkt.

Bauernhöfe geplündert

Auch die Bauernhöfe blieben nicht verschont. Die gesamte Rechtspflege lag nun allein in Händen der englischen Militärregierung. Eine starke Polizei gab es noch nicht. Sie bestand mehr aus Hilfskräften für den englischen Streifendienst. Das Amtsgericht Witten eröffnete in Annen erst am 6. August 1945. Zur Bandenabschreckung gab es eigentlich nur Plakate der Militärregierung mit Warnungen in fünf Sprachen.

In diesem Rechtsvakuum formierten sich Werks- und Bürgerwehren. Obwohl noch immer Waffen und Munition aus der Ruhrkesselschlacht überall gefunden wurden, waren diese Wehren meist nur mit Knüppeln ausgerüstet, deshalb auch „Knüppelwehren“ genannt. Die Bürgerwehr in Düren bestand aus neun Bergleuten, darunter auch Paul Krückeberg. Die Männer hatten sich zum Schutz des Weideviehs auf den Feldern und Hofanlagen zusammengetan. Ihre Wachsamkeit war vor allem während des allgemeinen Ausgehverbots zwischen 22 und 4 Uhr erforderlich.

Tod durch Genickschuss

Bis in der Nacht zum 26. Juni blieb das Gehöft von Wilhelm Düren unbehelligt. Gegen Mitternacht wurden die Gebäude weiträumig umstellt. Dann drangen mehrere Personen durch ein Seitenfenster in das Herrenhaus ein. Mit Waffengewalt trieben sie acht Bewohner in das Schlafzimmer des 64-jährigen Düren. Unbelästigt blieb lediglich eine im Hause untergekommene Kriegerwitwe. Sie stillte gerade ihren Säugling.

Landwirt Düren forderte seine Hausleute zu absoluter Ruhe auf, obwohl ihm selbst sofort die Taschenuhr entwendet worden war. Alle mussten sich mit dem Gesicht zum Fenster und erhobenen Armen aufstellen. Während der Plünderung, mitgenommen wurden fast nur Kleidungsstücke, verblieb eine Wache mit der Waffe in der Hand im Türrahmen stehen. Das dauerte ziemlich lange, mindestens eine Stunde.

Plötzlich gab es draußen einen lauten Knall, aber keine Schreie. In das Zimmer stürmten zwei Männer, die sofort das Feuer eröffneten. Wilhelm Düren starb als erster durch Genickschuss. Sofort tot waren auch: seine Wirtschafterin, Frau Niederprümm, ein Maurer, der zufällig über Nacht blieb; ferner der 17-jährige Sohn der zuvor genannten Kriegerwitwe sowie ein 15-jähriges Mädchen, das auf dem Gut die Hauswirtschaftslehre absolvierte.

Nur wenige überlebten

Mit mehreren Kopfschüssen fielen ein ehemaliger Soldat und mit einem Schulterschuss der Verwalter Anton Wesseler zu Boden. Der Soldat starb binnen einer Woche, Anton Wesseler überlebte nach längerem Krankenhausaufenthalt. Völlig unverletzt, aber mit Blut überströmt, überlebten die 26-jährige Nichte der Wirtschafterin, Frau Warneke, sowie die 14-jährige Erika Groß. Sie war damals auch als Haushaltslehrling auf dem Hof Düren tätig.

Der siebte Tote wurde in der Morgendämmerung vor dem Haus unter einer Blutbuche liegend gefunden. Es war der Schweinemeister, erschlagen mit dem eigenen Knüppel. Dem zahlreichen Hofgesinde in den Nebengebäuden geschah nichts. Auch die in einer Notunterkunft, oberhalb der Pferdeställe, wohnende Familie Bertulies blieb unbehelligt. Sie war in Nähe des Hammerteiches ausgebombt worden. Gustav Bertulies und Melkmeister Engel betteten die Schwerverletzten auf Stroh und brachten sie mit Pferd und Wagen nach Aufhebung der Sperrzeit ins Krankenhaus.

Geahndet wurde die Tat nie. Sie unterlag der englischen Militärgerichtshoheit. Aus diesem Grund hat auch die Staatsanwaltschaft Bochum nicht ermitteln können. Die Vernehmungsprotokolle der Engländer sollen sich in einem Londoner Archiv befinden.

Das Tatmotiv blieb ungeklärt

Offen blieb die Frage, warum sieben unschuldige Menschen noch solange nach Kriegsende sterben mussten:

War es die Tatsache, dass Düren einem Polen wiederholt den Beischlaf unter seinem Dach mit einer Fremdarbeiterin verwehrte?

War es die Wut darüber, dass Düren einem Tagelöhner nicht Pferd und Wagen herausgab zum Abtransport von Diebesgut? Die Tochter dieses Mannes raubte Feldpostpäckchen bei der Hauptpost und wurde deshalb zum Tode verurteilt und auch hingerichtet.

Oder war es die Tatsache, dass jemand die Plünderer mit dem Wurf einer Handgranate vertreiben wollte und so die willkürliche Erschießung von sieben Menschen auslöste? Für einen glaubwürdigen Augenzeugen ist der Wurf der Handgranate das Hauptmotiv!

Oder war es eine Verwechslung? Wie auch vermutet wurde, hatten es die Plünderer auf den nahegelegenen Hof Schulte-Steinberg abgesehen, sie verwechselten aber die beiden Höfe und suchten den Hof Düren heim.

Die Todesanzeige wurde geändert

Die erste Todesanzeige für Wilhelm Düren verwarf der englische Militärkommandant Howse. Er strich die Formulierung „… fiel einem ruchlosen Verbrechen zum Opfer“.

Karoline Robbert nach einem Bericht von Franz Nelihsen †2018